Wenn ein Meinungsforscher zur Feder greift, so hat er die Langfristperspektive durchaus im Sonne. Manfred Güllner, Chef des Meinungsforschungsinsituts Forsa, hat sich in seinem Werk “Die Grünen: Höhenflug oder Absturz?” einer der letzten erfolgreichen Parteineugründungen der Bundesrepublik Deutschland angenommen – ihre Vergänglichkeit und auch ihrer Wirkungen auf die demokratische Kultur der Bundesrepublik.
In einem Vorab-Interview mit Spiegel online am 23. September 2012 wurden die Positionen zugespitzt auf den Tisch gebracht. Güllner löste einen Sturm der Entrüstung aus und die Grünen funkten auf allen ihren Twitter- und Facebook-Kanälen: Wir wollen dies gar nicht hören. Sepp Dürr, ehemaliger Fraktionsvorsitzender der Partei im Münchner Maximilianeum, hat sich ein wenig intensiver mit den Aussagen befasst. Es lohnt sich, diese Aussagen außerhalb der 140-Zeichen-Welt ein wenig näher zu betrachten:
Nach dem unsäglichen Sarrazin gibt es jetzt mal wieder ein Buch, das man nicht gelesen haben muss, um sich darüber aufzuregen: „Die Grünen“, von Manfred Güllner. Öffentliche Erregung ist die beste Werbung für solche nicht lesenswerte Bücher. Ich lese sie nicht. Ich lese nicht jeden Unsinn. Aber was mich beschäftigt, ist die öffentliche Diskussion darüber. In einem kurzen Spiegel-Interview hat Güllner vorab allerhand wirren, aber offenbar werbewirksamen Unsinn von sich gegeben.
Dürr hat natürlich Recht: man muss nicht jedes Buch gelesen haben. Und Sarrazin´s Thesen von der natürlichen Auslese in Anknüpfung an die Rassenideologie waren wirklich alles andere als appetitlich.
Es gibt natürlich zwischen Sarrazin und Güllner einen gewichtigen Unterschied: Güllner konnte bereits in seinem Spiegel online-Interview deutlich nachweisen, dass die Grünen eine Zeitgeist-Partei sind – aber eben auch mit einem gefährlichen Zeitgeist. Sie leben von dem Gutmenschentum, welches zwar alles wollen, aber sich dafür nicht anstrengen wollen.
Man glaubt nicht, was in wenigen Sätzen alles für krudes Zeug Platz hat. Wer für mehr Demokratie eintritt, gefährdet die Demokratie.
Die Grünen treten nicht für „mehr Demokratie“ ein, sondern für eine Meinungsdiktatur. Dies ist ein grundlegender Unterschied, der einem Grünen zu akzeptieren sicher schwer fällt, aber eben auch der Realität entspricht. Man erinnere sich an zwei Volksentscheide, die in den vergangenen zwei Jahren für Aufsehen sorgten: S21 in Stuttgart und die Flughafen-Erweiterung in München. In beiden Fällen, um dies vorweg zu nehmen, waren die Grünen dagegen. Sie haben aber auch deutlich gemacht: wir akzeptieren dieses Ergebnis nur, wenn es in unserem Sinne ausgeht. Noch heute klagen die Verantwortlichen der Bahn darüber, dass der Stuttgarter Verkehrsminister Herrmann mit allen Mitteln S21 zu hintertreiben versucht. In München sind die Grünen nur dadurch zum Erfolg gelangt, in dem sie mit falschen Behauptungen hausieren gegangen sind und für schiere Angst unter der Bevölkerung Stimmung gemacht haben.
Wer gegen Neonazis ist, der ist selber einer.
Dürr scheint hier nicht wirklich gelesen zu haben, sondern eine reflexhafte Diskussion aufmachen zu wollen: Wir sind keine Nazis! Dies hat Güllner auch sehr deutlich gesagt: „Ich will die Grünen um Gottes willen nicht mit den Nazis vergleichen.“
Unangenehm für die Grünen wird es jedoch, als er den Ursprung beschreibt: „Doch rein soziologisch betrachtet, entstammte der ursprüngliche Nukleus dieser Bewegung in der Weimarer Zeit und später der Grünen-Bewegung dem gleichen antimodernen Segment der Gesellschaft, einem radikalisierten Teil der deutschen Mittelschicht.“ Denn hier hat Güllner historisch und politologisch vollkommen die richtigen Schlüsse gezogen. Die antimoderne Partei der Grünen stellt sich einer modernen und zukunftsweisenden Entwicklung, einer weltoffenen Gesellschaft, mit allen Mitteln entgegen – und ihre Politik beruht auf dem Aufbau einer Phobie in der Bevölkerung. Dies lässt sich mehrfach nachweisen:
- Unmittelbar nach der Sommerpause haben die Grünen im Bayerischen Landtag einen Gesetzentwurf für ein „Integrationsgesetz“ eingebracht, welches im Kern jedoch nicht Integration, sondern Selektion im Auge hat. „Migranten“ sollen weiterhin separiert werden, ihnen sollen Sonderrechte zugestanden werden, die „Migranten“ zum natürlichen Angriffsziel machen würden.
- Die Grünen sind gegen jegliche Form von Lärm und Fortschritt im Verkehrswesen – und sie sind stolz darauf, dass sie auf dieser ideologischen Basis möglichst wenig von der Welt sehen. Grüne stehen auch deshalb immer an Gewehr bei Fuss, wenn es darum geht, Bahntrassen, Strassen und Flughäfen zu verhindern – und predigen damit im Kern ein Immobilität, die mit den heutigen Anforderungen nichts mehr zu tun hat.
Aber wer wie Güllner Nazi-Jargon wie „Gutmensch“ verwendet, ist natürlich ein lupenreiner Demokrat. Ist doch klar, oder?
Es ist das alte Schema: möchte man eine Analyse nieder machen, holt man die Nazi-Keule heraus. Richtig daran ist, dass auch die Nazis einmal den Slogan des „Gutmenschen“ genutzt haben – ohne dass dieser deshalb dauerhaft verloren wäre. Die deutsche Sprache würde sehr schnell sehr arm werden.
Was aber ist ein „Gutmensch“? Es ist ein Mensch, der negative Entscheidungen fürchtet wie der Teufel das Weihwasser und den Bürgern nicht auch die negativen Folgeentscheidungen verständlich machen will. Man könnte ihn auch Drückeberger nennen, will der Gutmensch doch vor allem eine heile Welt verkaufen.
Missbrauch pseudowissenschaftlicher Autorität
Wie bei Sarrazin ist die verdrehte Logik so offensichtlich daneben, dass man sich wundert, wie das jemand außer dem Autor ernstnehmen kann. Für die „wissenschaftliche“ – „soziologische“ – Verwurzelung von Parteien in der alten Nazi-Bewegung gäbe es rein „pragmatisch“ viel naheliegendere Kandidatinnen, bei denen die Altnazis auch nach dem Krieg noch in führender Funktion aktiv waren, bis hinauf ins Kanzleramt.
Anstatt sich mit dem Interview auseinander zu setzen, offenbart Dürr vielmehr, dass er Güllner weder verstanden hat noch wirklich zumindest dieses Interview gelesen hat. Wir verweisen auf oben.
Dürr verkennt aber auch, dass bei einem ausgestreckten Finger immer vier Finger auf einen selbst zeigen. Denn wie war das mit der Einbindung von Altkommunisten, die zwischenzeitlich bis hinauf in den Fraktionsvorsitz aufgestiegen sind. Wie war das, als ein ehemaliger Außenminister auf PLO-Tagungen erschien, als diese noch fest im Terrorismus verankert waren und Israel vernichten wollten. Der Nationalsozialismus war nicht der einzige Totalismus in der Geschichte des Landes, er war nur der grausamste.
Aber wozu bei den Historikern nachfragen, wenn man sich selber Theorien schmieden kann? Von solchen „wissenschaftlichen“ Behauptungen, die einer aufstellt, der vom jeweiligen Fachgebiet ganz offensichtlich keine Ahnung hat, haben wir Grünen schon lange die Nase voll.
Auch hier wieder fehlt Dürr die Kraft und Fähigkeit, sich auseinander zu setzen. Er geht unüberlegt zum Gegenangriff über. Denn der Soziologe und Politologe ist nicht unbedarft in der Historie, er verwendet nur einen anderen Ansatz. Güllner hat aber gar nicht, wie Dürr zu meinen glaubt wollen zu müssen, historisch argumentiert, sondern lediglich eine Parallele gezogen.
Sie sind der Grund für die „antimoderne“ grüne Wissenschaftsskepsis. Die richtet sich eben nicht gegen Rationalität als solche, sondern nur gegen den Missbrauch „wissenschaftlicher Autorität“ durch Pseudowissenschaftler.
Allein der Begriff „Pseudowissenschaftler“ zeigt, dass Dürr alles andere als nüchtern und besonnen reagiert. Er reagiert auch nicht emotional, sondern auf dem Abwehrtrip. Und es gibt keinen besseren Beweis für Güllner´s These, als wenn der Angegangene in eine „Hab-Acht“-Stellung geht, die sich vor allem aus der Angst speist. Aus der Angst, in die Bedeutungslosigkeit abzusinken.
Wahlarithmetik leicht gemacht
Den von Güllner behaupteten „eindeutigen Zusammenhang: Je höher der Stimmenanteil der Grünen, umso niedriger die Wahlbeteiligung“, kennen wir Grünen natürlich auch. Aber wir haben bisher immer gedacht, es wäre umgekehrt – vorausgesetzt, wir bieten unseren eigenen potentiellen WählerInnen gute Gründe, zur Wahl zu gehen. Dass Kretschmann in Baden-Württemberg zusammen mit den Sozialdemokraten „nur“ ein Drittel der Wahlberechtigten für einen Regierungswechsel reichte, soll ein Problem sein. Dass Stoiber 2003 mit der etwa gleichen Zahl von Wahlberechtigten eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bayern erringen konnte, war scheinbar keins.
Hier beginnt dem geneigten Leser von Dürr dann, vollkommen durcheinander zu geraten. Denn der Autor hat nicht zu gezeigt, dass er nicht zu einer sachlichen Auseinandersetzung in der Lage und Willens ist. Der ehemalige Fraktionsvorsitzende der Grünen im Maximilaneum zeigt auch seine Faktenschwäche: Stoiber errang 2003 eine Zweidrittel-Mehrheit bei einer Wahlbeteiligung von 57,1 Prozent, während Kretschmann ein Viertel der Wähler hinter sich bei einer Wahlbeteiligung von 66,3 Prozent errang. Die Unterschiede in der Wahlbeteiligung sind nur marginal. Die Resultate dennoch gewaltig.
Denn die eine Zweidrittel-Mehrheit einer Partei zeigt eine Geschlossenheit der Wählerschaft, die es im zwischenzeitlich zersplitterten baden-württembergischen System nicht gibt. Und der Unterschied liegt auch hier wieder im Detail: „In Baden-Württemberg hat Winfried Kretschmann … leitet aber daraus ein Mandat für einen radikalen Politikwechsel ab.“ Von Stoiber kann man gerade einen radikalen Politikwechsel nach 2003 nicht behaupten. Er hat bereits zuvor angefangen, den Freistaat Bayern radikal umzubauen und die Staatsfinanzen zukunftsfest zu machen. In Bayern wussten die Bürger, was mit Stoiber auf sie zukommt – in Baden-Württemberg wollten selbst die SPD-Wähler keinen Politikwechsel, sondern waren lediglich des Ministerpräsidenten Mappus überdrüssig.
„Alternativlosigkeit“: Die Politik schafft sich ab
Güllner wirft, indem er auf die Grünen einhaut, vor allem den „Volksparteien“ Versagen vor. Sie seien „zu grün geworden“.
Nun, Güllner hat genau dies damit gesagt. Aber auch: die Volksparteien haben sich der Themen, die die Grünen einmal aufgebracht haben, angenommen und zukunftsorientierte Politikkonzepte entwickelt. Die Grünen habe sich mehr als 30 Jahre auf dem Slogan „Wir gegen Atom“ ausgeruht und haben bis heute nicht verstanden, dass die Zeit weiter gegangen ist. Die Moderne erfordert ein zukunftsfähiges Konzept, welches alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen in die Gesellschaft einbezieht – nicht nur die obere Lifestyle-Mittelschicht, die die grüne Wählerbasis ausmacht.
Wenn es nur so wäre. Das einzige, was daran stimmt: Es ist die vermeintliche, die letzten zehn Jahre immer wieder behauptete „Alternativlosigkeit“, die zu Politikverdrossenheit führt. Wenn es keine Handlungsalternativen gibt, ist eh alles wurscht. Mit der Behauptung der „Alternativlosigkeit“, von Thatcher erfunden, von Schröder aufgewärmt und jetzt immer wieder von Merkel bemüht, wenn es „um Europa“ geht, schafft sich Politik selber ab. Wenn es keine Wahlmöglichkeiten gibt, warum dann wählen gehen? Dazu kommt die Erfahrung: „Die machen ja sowieso, was sie wollen.“ Wer sich einflusslos fühlt, resigniert.
Was Dürr hier kritisiert, ist Kritik an sich selbst. Es war seine Partei, die Merkel´s „Alternativlosigkeit“ zugestimmt hat. Es waren die Grünen, die jedem einzelnen Gesetz der merkelschen Europapolitik seit 2008 ihren Segen gegeben haben – und nicht sie waren es, die nach Karlsruhe gezogen sind.
Die grüne Gefahr: zu viel Demokratie
Warum kommt das jetzt? Es liegt nicht nur daran, dass Güllner die Grünen nicht leiden kann. Schuld ist die Machtübernahme in Baden-Württemberg. Das sagt Güllner ja überdeutlich.
Das sagt Güllner und er meint es sogar so. Güllner will ein Buch verkaufen, deshalb kommt es jetzt und nicht zu einem anderen Zeitpunkt. Dürr scheint, und hier steht er in bester Tradition seiner Parteifreunde, die Grundsätze der Marktwirtschaft aus den Augen zu verlieren.
Unser grüner „Einfluss ist unangemessen groß“. Nun ist Kretschmann nicht gerade als Revolutionär oder, wie Güllner behauptet, für den „radikalen Politikwechsel“ bekannt. Soweit man weiß, steht im Ländle noch alles.
Kretschmann ist nur ein Teil des Problems, denn hinter ihm stehen die Herrmann´s – unter anderem. Und Kretschmann steht durchaus für einen „radikalen Politikwechsel“, der er war es, der zu Lasten der öffentlichen Kassen riesige Gelder verschwenden wollte, weil ihm der Grundsatz pacta sun servante nicht geläufig zu sein scheint.
Aber er war es auch, der die ganzen grünen Kostgänger versorgt hat. Der Menschen zwingen will, auf Fleisch zu verzichten und Rad zu fahren. Dies ist der „radikale Politikwechsel“, für den Kretschmann letztlich auch ein Stück weit als Symbol herhalten muss – es ist die Zwangsbeglückung, die sich jedoch nur die grüne Lifestyle-Mittelschicht leisten kann.
Aber er und die Seinen haben einen radikalen Stilwechsel eingeleitet. Weil Kretschmann mit seiner Politik des Gehörtwerdens die Fehler der Politik von oben gnadenlos bloß legt und neue demokratische Wege geht, sind die Grünen in Baden-Württemberg dort, und nur dort, tatsächlich auf dem Weg zur Volkspartei.
Dürr scheinen die Zahlen nicht wirklich geläufig zu sein. Denn die Grünen haben zwar ein Volksbegehren durch gesetzt – bei dem sich aber heraus gestellt hat, dass sie nicht einmal in Stuttgart mit ihrer Position eine Mehrheit hinter sich versammeln konnten. Und es ist der grüne Verkehrsminister, der dieses Volksbegehren ignoriert. Grüne Volksbeteiligung, dies zeigt sich exemplarisch hier wie auch in München, funktioniert nur dort, wo das Volk so entscheidet, wie die Grünen es wollen – ansonsten ignorieren sie das Ergebnis. Im Zweifel wird in die Mottenkiste aus Lug und Betrug gegriffen.
Dürr war nicht der einzige Grüne, der sich empört gezeigt hat. Auf ihren Twitter-Kanälen zeigten die Grünen die fehlende Fähigkeit, sich mit dem, was Güllner schreibt – ob man ihm zustimmt oder ablehnt – auseinander setzt. Eine kleine Auswahl der doch recht hasserfüllten Meldungen … die eher auf Richtigkeit von Güllner hinweisen als das Gegenteil nachweisen:
Für Dieter Janecek, Landesvorsitzender der bayerischen Grünen, scheint festzustehen: Alle Bücher, die nicht von Grünen sind oder kritisch zu ihnen stehen, sollte man nicht kaufen. Und er beruft sich hier auch einmal mehr auf das “Neue Deutschland“, das Zentralorgan der Linkspartei, und will wohl bereits so neue Koalitionsperspektiven öffnen.
Auch Daniel Mack, hessischer Landtagsabgeordneter, will sich überhaupt nicht Güllner auseinander setzen. Er verweist lieber auf einen Artikel auf Zeit online, und übersieht dabei, dass der Zeit-Kommentator gar nicht so weit von Güllner entfernt liegt.
Kai Gehring sieht in Güllner´s Buch die Selbstdemontage der Meinungsforschung – und dies, obwohl Güllner doch sonst recht freundliche Umfragewerte präsentiert:
Und auch Dauer-Twitterer Volker Beck schiesst aus allen Rohren – aber ohne inhaltliche Auseinandersetzung