Blaine Harden - Flucht aus Lager 14Wenn ein Mensch sich selbst daran erinnert, dass er eigentlich keine menschlichen Verhaltensweisen hatte, so muss viel passiert sein.

Nordkorea ist ein Land, welches wohl zu den skurillsten Erscheinungen der Weltgeschichte mutiert ist. Und gleichzeitig ist es zu einer der grausamsten, menschenverachtensten Diktaturen geworden. Wer Shin In Geuns Bericht über sein Leben und seine Flucht liesst, bekommt jedoch einen ungefaehren Eindruck dessen, was es bedeutet, als so minderwertig angesehen zu werden, dass ihm nicht einmal die Propaganda des nordkoreanischen Systems zu Teil wurde.

Shins Verbrechen war ein recht einfaches, welches er nicht einmal beeinflussen konnte: sein Onkel war im Korea-Krieg in den Sueden des geteilten Landes geflüchtet. In diesem Moment war seine Familie damit als unzuverlässig eingestuft, lange bevor Shin überhaupt geboren wurde. Seinen Vater sah er, wenn die Wärter des Lagers 14 ihm die Besuche einmal erlaubten und zu seinem Bruder hatte er kein wirkliches Verhältnis. Dies prägte aber auch seine Beziehung zu seinen Eltern.

Es war der Futterneid in seiner dramatischsten Erscheinung, der Shins Verhältnis zu seiner Familie ausmachte. Seiner Mutter stahl er ihre karge Mahlzeit – weil er selbst einem ständigen Hunger ausgesetzt war. Statt Mutterliebe bekam er Schläge von seiner Mutter und von seinen Wärtern und „Lehrern“ eingetrichtert, jede Regelverletzung auch von seinen Eltern zu melden. Wer mit ständigem Hunger und der Erziehung zur gegenseitigen Bespitzelung aufwächst, bis zu seinem 13 Lebensjahr nicht eine irgendwie geartete Form der Zuneigung und stattdessen einzig die primitivsten Formen des Überlebens kennen lernte, der hat nie die einfachsten Formen des Menschlichseins kennen gelernt.

Als Shin bereits aus North Korea geflüchtet war und in den USA lebte, kamen ihm die Gedanken, die wohl die innersten Werte eines Menschen sind. Und unter normalen Umständen würde Shins Umwelt ihn dafür zu Recht mindestens moralisch verurteilen. Vordergründig verriert er die Fluchtpläne seiner Mutter und seines Bruders, weil seine Mutter seinem Bruder Reis kochte – ein Luxusgut, wenn man sonst nur Maisbrei zum Essen bekommt. Tiefer gehend war es jedoch ein Überlebensinstinkt. Denn wenn die Flucht geglückt wäre, wäre er selber totgeweiht. Shin lebte nicht unter normalen Umständen und deshalb muss sich jeder fragen, der sollte sich deshalb fragen, wie er sich selber in gleicher Situation verhalten würde. Und da sich wohl niemand in Shin In Geun’s Lage wünscht, verbietet sich jede Verurteilung.

Aber die neunmonatige Haft, die Folter, zerstörte auch sein Verhältnis zu seinem Vater endgültig – obwohl sich dieser nun wohl erstmals darum bemühte, seinen Sohn irgendwie zu schützen. Auch wenn er seinen Vater von Zeit zu Zeit besuchte, im tiefsten Herzen verachtete er ihn – dafür, dass er sein Vater war. Shin brachte es nicht einmal übers Herz ein Geschenk seines Vaters anzunehmen, obwohl es das Wertvollste war, was es im Lager 14 gab … Essen. Erst als er flüchten wollte, zeigt er etwas wie Liebe zu seinem Vater und gleichzeitig Schuldgefühle. Denn Shin wusste: der Vater würde seine eigene Flucht mit seinem Leben bezahlen oder zumindest erneut schwer gefoltert werden. Aber dennoch verriet er seine Fluchtpläne nicht, denn ein inneres Misstrauen blieb.

Und so waren es nicht seine eigenen Angehörigen, die ihm etwas wie menschliche Nähe gaben. Sondern ein Mithäftling, der ihm nach der Folter im Gefängnisgefängnis wieder gesund pflegte, sein Essen mit ihm teilte und ihm den Traum von Freiheit gab. Dieser Traum – für Menschen- und Bürgerrechtler wohl mehr als befremdlich – bestand diese Freiheit jedoch nicht darin, zu sagen was er wollte oder zu gehen, wohin ihm trachtete. Freiheit bedeutete für Shin, zu essen was er wollte – und zu essen, soviel er wollte. Für jemand, der nie Hunger leiden musste, ein sonderbarer Freiheitsbegriff. Für Shin der Inbegriff der Freiheit und er interessierte sich auch nicht für die Erzählungen seines lebenserfahrenden Freundes Park über die politische Freiheit.

 

Shins Erzählung lässt einen deutlich spüren, in welchen Verhältnisses die Lagerhäftlinge leben: Exkremente, Läuse, Hunger und ein Leben in Lumpen. Die Erzählung ist so lebendig, dass sich der aufmerksame Leser den Leiden und dem Elend nicht entziehen kann. Und auch der Tatsache, dass Shin dies noch nicht einmal so empfindet, denn er hat nichts anderes erlebt. Hier hat auch der jahrelange Hinweis auf die Minderwertigkeit des eigenen Lebens seine Wirkung gezeigt. Sicher, als die Kinder der Wärter sie immer mit Steinen beworfen haben, merkte er: hier stimmt etwas nicht. Aber er hatte nicht die Macht, dies zu ändern und letztlich ertrug er dies wohl auch deshalb, weil der Futterinstinkt stärker war als das Gerechtigkeitsempfinden. Shin zeigt, was es heisst, dass er von Geburt dazu getrieben wurde, zu „normalen menschlichen Gefühlen nicht imstande“ zu sein.

Shin änderte seinen Namen, nachdem er in Südkorea angekommen war – und liess damit sein altes Leben hinter sich. Und dies war mehr, als das Lagerleben. Es war auch die Gefühlslosigkeit und die Gleichgültigkeit, die ihm in Camp 14 anerzogen war. “Ich habe das Gefühl, langsam menschlich zu werden.“ – eine Aussage, die unter anderem die Ermordung seiner Mutter und seines Bruders in eine menschliche Vorstellungswelt ausrichtete. Sein Weg in die Zivilisation führte über Alpträume und die Entdeckung seines Vaters.

 

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