Auch 2012 war der Nahe und Mittlere Osten wieder ein staendiger Gast in den weltweiten Nachrichtenspalten. War 2011 noch ein durchaus positiven Gesamteindruck, den die sogenannte Arabische Revolution hinterlassen hatte, vermittelt worden, setzte im abgelaufenen Jahr eine gewisse Ernuechterung bei den Beobachtern ein – die projezierten Hoffnungen waren nicht eingetreten. Und der genaue Beobachter hatte dies auch bereits in 2011 vorausgesagt – zumindest, soweit die Erwartungen geweckt war, die Beobachter in Europa und den USA aufgemacht hatten.
“Arabische Revolution” – Versandtet
Obwohl nichts auf eine zielgerichtete politische Entwicklung in den arabischen Staaten hindeutete, waren die europaeischen und nordamerikanischen Politiker und Medien entzueckt. Sie waren der Fehlannahme verfallen, dass sie quasi aus dem Nichts heraus demokratische Ordnungen entwickeln, die vollstaendig nach westlichem Muster funktionierten. Es war, ohne es zu merken, die Ueberlegung, der auch die Neokonservativen verfallen waren: Demokratie westlicher Praegung ist a) ein universeller Wert und b) lebt sie auch im verborgenen, unter Diktaturen. Faellt die Demokratie weg, bedarf es fuer die Entwicklung demokratischer Systeme keine Entwicklungsphase.
Was die Staaten- und Medienverantwortlichen jedoch bereits uebersahen: die “Revolutionen” waren nicht das Ergebnis eines organischen Prozesses, sondern einer Zufallsreaktion. Der Ausloeser, ein kleiner Gemuesehaendler im tunesischen Staedtchen Ben Arous, hatte mit Politik nichts am Hut und ihm ging es um die Erneuerung seiner Haendlerlizenz. Es war der Funke, der das Pulverfass des tunesischen Autokraten Ben Ali zur Explosion brachte und die in einer Art Kettenreaktion die Menschen anderer Autokratien zum Aufstand animierten. Von Marocco bis nach Bahrain ging es den Menschen nicht um eine politische Reform – zumindest nicht zuvoerderst -, sondern um ihre ganz persoenliche Lebenssituation.
Mit Unterstuetzung und Billigung der westlichen Regierungen hatten die Machthaber in den vergangenen 50 Jahren jede Oppositionsbewegung unterdrueckt. Wenn ueberhaupt, so war diese wie in Aeqypten in Minderheiten repraesentiert oder sie war ins Ausland abgedraengt worden. Nur im Nil-Staat war mit der Muslim Brotherhood eine Bewegung herangereift, die ein Programm hatte, welches einer breiten Mehrheit ideologisch zugaenglich war – und diese Organisation war der Inbegriff der Radikalitaet und Rueckstaendigkeit. In allen anderen Staaten vom Atlantik bis zum Persischen Golf war selbst diese so gruendlich beseitigt worden, dass sie sich nur in der zersplitterten Auslandsopposition wiederfand.
Es fehlte also die Kraft, die die Grundvoraussetzung der Demokratie fehlte: ein Programm und eine politische Leitidee, die sich dem Waehler praesentieren laesst. Das Fehlen einer solchen Alternativenpraesentation zeigte sich exemplarisch im Yemen. Das Ziel war erreicht, als der bisherige Machthaber Saleh abgetreten war. Die Bevoelkerung ging – bildlich gesprochen – nach Hause und kuemmerte sich nicht mehr sonderlich um die weitere Entwicklung. Dies zeigte das Dilemma der gesamten Bewegung: die Demonstranten waren gegen die gegenwaertigen staatlichen Strukturen, nur hatten sie kein Konzept fuer die Zeit nach seiner Beseitigung.
In Tunesien wie in Aegypten sprangen schliesslich diejenigen ein, die vom Westen und auch von Israel ueber alles gefuerchtet wurden: die Muslim Brotherhood. Dabei haette man es besser wissen koennen, wenn die Beobachter rechtzeitig den Blick auf die Tuerkei gelenkt haetten. Tayyip Erdokan war ebenfalls der islamistischen Bewegung entsprungen und trotz jahrzehntelanger Verfolgung 2003 schliesslich Ministerpraesident geworden. Er hatte zwar den Umgang mit kopftuchtragenden Frauen liberalisiert (gegen den Willen der alten tuerkischen Elite) – aber gleichzeitig die Tuerkei europareif gemacht. Von einem Wandel zu einem Gottesstaat kann bis heute keine Rede sein. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, die Meinungsfreiheit wurde erweitert, der Kampf gegen die Folter verstaerkt. Die Lage der Kurden wurde durch die Zulassung kurdischer Sprachkurse und TV-Programme verbessert. Und Erdogan zu dieser Zeit eine Annäherung an Armenien. Punkte, die man zwar bei den westlich orientieren Vorgaengerregierungen gerne auf den Lippen trug, deren Umsetzung trotz Nato-Mitgliedschaft jedoch nicht eingefordert wurde. Von einer islamisierten Gesellschaft ist die Tuerkei heute genauso weit entfernt wie die Bundesrepublik von einem katholischen Stammland. Die Angstzustaende, die auch 2006 noch bei der Wahl der Hamas in den Aussenministerien und Praesidialkanzleien zu tage traten und die Radikalisierung erst richtig voran getrieben haben, waren umsonst.
Aber man hatte eigentlich nichts daraus gelernt und war noch nicht einmal in der Lage, die Programme zu lesen. Die Muslim Brotherhood war sowohl in Tunesien wie in Aegypten Teil der verfolgten Opposition gewesen. Dennoch wurde sie in die Naehe des Terrorismus gerueckt. Und deshalb wurde insbesondere die Entwicklung im Land der Pharaonen besonders kritisch beaeugt.
Libyen als Suendenfall und gefolgt von Syrien
Den Suendenfall und die Verletzung der eigenen Grundsaetze hatten ihre Feuerprobe in Libyen. Lange zoegerte die Weltgemeinschaft, ueberhaupt die Aufstaende gegen den Diktator zu unterstuetzen. Waehrend von Bengasi aus bereits zahlreiche Aufstaendische gegen das Regime in Tripolis zu Felde zogen, wurde seitens der europaeischen Hauptstaedte noch diskutiert, ob nun eine Unterstuetzung erfolgen sollte. Es waren die arabischen Staaten – Qatar und UAE -, die den Einsatz militaerischer Mittel einforderte.
Die Staaten der Weltgemeinschaft gingen jedoch auch hier wieder auf einen entscheidenden Fehler ein, indem sie die libysche Opposition recht schnell und ohne legitimatorische Grundlage als libysche Vertretung anerkannte. Der richtige Ansatz, dem lange gestuetzen Regime in Tripolis die Unterstuetzung zu entziehen zugunsten einer ebenfalls nicht legitimierten Gruppe sollte sich rasch und unmissverstaendlich raeschen: die libysche Opposition ging mit ihren Gegnern wenig zimperlich um und verfolgte auch die tschadischen Soeldner bis weit an die Grenze, als diese sich zurueck ziehen wollten. Man war nicht bereit, ueber relative ungefaehrliche Luftangriffe auch das Risiko eines Landeinsatzes und der Kontrolle des Wuestenstaates auf sich zu nehmen. Dabei haette man gewahr sein muessen, dass eine Gesellschaft ohne demokratische Tradition diese erst erlernen muss und hierfuer eine zielfuehrende Unterstuetzung bedarf. Es war der Iraq und Afghanistan, welches immer noch in den Knochen steckte – und nebenbei der Libyen-Konflikt ein tiefgreifendes Missverstaendnis zwischen den USA und Russland hervorrief, mit gravierenden Folgen fuer Syrien.
Obama, Merkel und Westerwelle zeigten sich dann auch verwundert, als die Uebergangsregierung von Mustafa Abdul Jalil mit flotten Schritten die Angstzustaende herauf beschwor und die Scharia als zentrale Gesetzesgrundlage einfuehrte. Erneut zeigte sich, dass zumindest unter den Regierenden ein Verstaendnis weder fuer die islamische Lehre noch fuer die Zielrichtung der politischen Akteure der Region vorliegt.
Die Folgen dieser Fehlleistung und -einschaetzung mussten schliesslich die Menschen in Syrien ertragen, denen bis heute ausser ein paar warmer Worte keine Unterstuetzung zu teil wurde. Weder in Form einer direkten Initiative noch auch nur in der Unterstuetzung der Aufstaendischen wie der Syrischen Befreiungsarmee. Trotz dringender Bitten der GCC-Staaten waren die westlichen Regierungen nicht bereit, eine ueber die rein verbale Unterstuetzung zu gewaehrleisten oder mit eigenen Mitteln in den Konflikt einzugreifen. Die Folgen sind unuebersehbar: nicht nur die syrische Bevoelkerung ist mit Mordtaten beider Seiten konfrontiert, sondern auch die historischen Altstaedte Syriens sind zwischenzeitlich nahezu komplett zerstoert.
Scheitern der Arabelion?
Beantwortet man die Frage aus westlicher Sicht, dann wird man sie bejahen muessen. Nimmt der Betrachter jedoch die arabische Sichtweise ein, so faellt die Antwort wesentlich differenzierter aus.
Die ersten freien Wahlen in Aegypten wie in Tunesien wurden durch Islamisten gewonnen. Sie gewannen die Wahlen in allgemein als frei bezeichneten Wahlen, in denen gerade in Land am Nil gegen Mohammed Mursi sowohl von der alten Elite wie vom Ausland mit aller Macht gegen das bestaetigte Praesidialprogramm gearbeitet wurde. Sie hatten ein Programm, welches zwar islamische Werte vertrat. Die atheistischen Gesellschaftsvorstellungen, die Ben Ali und Mubarak ihren Laendern verordneten oder der Personenzentrismus eines Muammar al Ghaddafi hatte mit der Lebenswirklichkeit der Menschen nichts zu tun.
Die Bevoelkerungen in den Laendern haben sich deshalb emanzipiert von Vorstellungen, die mit ihrer eigenen Lebenswirklichkeit nichts zu tun haben. Was hier seitens westlicher Medien und Politik kritisiert wird ist die Uebernahme westlichen Politikverstaendnisses mit anderen Vorzeichen. Die christliche Praegung in der europaeischen und U.S.-amerikanischen Politik ist trotz aller Lippenbekenntnisse zur Multi-Kulturalitaet tief verwurzelt und es sei an dieser Stelle an die Debatte erinnert, ob Barack Obama nicht doch ein Muslime sei. Oder in Grossbritannien ein Premier nur dann gewaehlt werden kann, wenn er Mitglied der anglikanischen Kirche ist. Wenn die arabischen Staaten eine Verbindung zwischen Demokratie und Islam testen, so testen sie ihr eigenes Verstaendnis des Staates. Dies ist einer der Erfolge, weil sie sich von oktroyierten Vorstellungen anderer Kulturen loesen und ihr eigenes Konzept umsetzen. Die sueddeutsche.de hat dies zu Recht mit dem Satz zusammen gefasst:
Aber die Zukunft Ägyptens und der islamischen Welt wird nicht mehr von den Wünschen des Westens bestimmt. Für die künftige Gestaltung der Beziehungen wird es kein brauchbares Rezept mehr sein, missliebige Ergebnisse freier Wahlen einfach ignorieren zu wollen, wenn dabei Islamisten gewinnen wie einst die FIS in Algerien oder die Hamas in Palästina. Dies könnte das einzige sichere Resultat des arabischen Frühlings bleiben, auch wo auf ihn inzwischen Herbst und Winter folgten. [1]
Gescheitert ist deshalb nicht der Arabische Fruehling, sondern die westlichen Vorstellungen davon – auch weil in den Hauptstaedten und Medien ein Unkenntnis von der Region herrscht, die nahezu erschreckend ist.
Anders schaut es jedoch dort aus, wo die westlichen Staaten nicht hinschauen: beispielsweise im Yemen. Alt-Praesident Saleh ist zwar abgetreten und der neue Praesident Abd Rabbuh Mansur entmachtet in immer staerkerem Umfang die alte Garde um Saleh. Eine Demokratie ist daraus jedoch bis heute nicht entstanden. Bis heute ist in dem Land jedoch Stillstand eingetreten und eine demokratische Entwicklung in weiter Ferne. Hier fehlt es bereits an einem Ausgleich zwischen den verschiedenen Regionen, insbesondere dem frueheren sozialistisch gepraegtem Sueden und dem westlich orientierten Norden sowie den Bergstaemmen an der Grenze zu Saudi Arabien.
Israels Nachbarschaftsprobleme
Der andere zentrale Bezugspunkt in 2013 war – einmal mehr – die Frage, ob Palaestina ein eigener Staat werden soll oder nicht. Und auch hier zeigten sich die westlichen Staaten von einer selten Einigkeit in ihrer Fehleinschaetzung.
Man koennte das Ergebnis des Jahres kurz zusammenfassen: nichts geschehen in diesem Jahr. Wenn da nicht einige Entwicklungen gewesen waeren, die fuer die weitere Entwicklung von zentraler Bedeutung waeren. Fuer die Staatlichkeit Palaestinas von zentraler Bedeutung ist die Anerkennung durch die UN und die Zuerkennung eines Beobachterstatus in New York . Ein Jahr nach dem Aufnahmeantrag und rund 20 Jahre nach dem Osloer Friedensvertrag wurde damit die palaestinensische Unabhaengigkeit und Staatlichkeit auf offiziell anerkannt. Es war dieser Schritt, der fuer Israel nach der Arabellion in Aegypten als erneuter Rueckschritt schien – obwohl er auch als Chance begriffen werden kann.
Premier Netanjahu unterlag in seiner bisherigen Politik der ausschliesslichen Focussierung auf die USA und periphere den europaeischen Staaten einer grundlegenden Fehleinschaetzung. Netanjahu hatte Maximalforderungen [2] aufgestellt in der Kenntnis, dass diese nicht annehmbar sind und gleichzeitig die Souveraentitaet des palaestinensischen Staates mit einem Vertragsschluss verknuepft. Die westlichen Staaten gingen hier darauf ein, weil sie nur so dem israelischen Sicherheitsbeduerfnis Rechnung getragen sahen. Bundeskanzlerin erhob sie sogar zur Staatsraeson [3] und gab Israel damit einen Freibrief, den Friedensprozess so lange als moeglich hinaus zu zoegern. Netanjahus Politik war jedoch ein Spiel mit dem Feuer, denn er konnte sich hier lediglich auf das Vetorecht der USA im UN-Sicherheitsrat verlassen und so die Vollmitgliedschaft verhindern. Der Schritt zur Staatlichkeit war damit jedoch nicht verbaut und er basiert nunmehr auf der Anerkennung der gesamten Welt mit Ausnahme der westlich orientierten Staaten.
Netanjahu bereitet mit seiner Politik insgesamt die Beendigung des Friedensprozesses vor. Wenn er beispielsweise in der Welt unter Bezugnahme auf den UN-Beobachterstatus meint, “Aber die Tatsache, dass die Palaestinenser ihre Verpflichtungen aus den Osloer Vertraegen einfach in Fetzen gerissen haben, wird einfach so abgetan.” [4] spielt er auf eine angebliche Ungleichbehandlung an, die so gar nicht existiert. Denn in den Osloer Vertraegen war von einer Verhandlungsbereitschaft ausgegangen, die Israel bereits seit laengerem aufgegeben hat. Hinzu kommt, dass die israelische Regierung durch den Ausbau bestehender Siedlungen versucht, Fakten zu schaffen und so das alte Siedlungsgebiet auszuweiten.
Aller Voraussicht nach wird Netanjahu im Januar 2013 wieder gewaehlt werden. Fuer Israel bedeutet dies auch eine Chance, die Fehleinschaetzungen der vergangenen Jahre zu korrigieren. Israel hatte ueber einen langen Zeitraum auch mit der Regierung Erdokan eine sehr gute Beziehung gepflegt und sowohl in Tunesien wie in Aegypten zeigte sich, dass auch islamistische Parteien nicht auf die Vernichtung Israels setzen. Gerade Mursi braucht die Unterstuetzung der USA wie Europas, um seiner Regierung auch die wirtschaftliche Stabilitaet zu geben und mit dem Veraenderungsprozess in Syrien besteht die Chance, dass auch Israels nordoestliche Flanke befriedet wird.
Hier muss er jedoch davon abruecken, von einem historischen Anspruch auszugehen, wie er diesen sowohl vor der UN wie auch bei zahlreichen anderen Gelegenheiten angemeldet hat. Denn wenn er davon spricht, dass “Abraham, Isaak und Jakob” auf dem Boden des historischen Judaea gewandelt sind [5] vergisst er auch die gemeinsamen Wurzeln der drei monotheistischen Religionen und damit den gleichwertigen Anspruch.
Dabei muss klar sein: Der Staat Palaestina hat die Unverletzlichkeit der Grenzen seines Nachbarn zu respektieren. Dies ist keine Bedingung eines Friedensprozesses mit Israel, sondern ein stehendes Gebot eines jeden Staates und nicht verhandelbar. Dies bedingt auch, dass die Hamas Angriffe aus dem Gaza unterlaesst.
Dokumente zur Middle East-Politik
- Israel Die Wurzeln der Treuen – Einwanderer und Wahlverhalten
- Israels Politik versteht keine leisen Toene
- Staat und Islam nach der Arabischen Revolution
- Netanjahu Günter Grass hat uns sehr verletzt
- Netanjahu Die Palaestinenser wollen einen Staat
- Netanjahu gegen die ganze Welt
[1] Rudolph Chimelli, Aegypten waehlt die experimentelle Demokratie, sueddeutsche.de 26.12.2012
[2] 1) Ablehnung der Grenzen von 1967; 2) kein Rueckkehrrecht palestinensischer Fluechtlinge nach Israel; 3) Jerusalem als ungeteilte Hauptstadt Israels; 4) Verbot der Unterhaltung einer Armee durch den palaestinensischen Staat
[3] Angela Merkel: “Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson.”
[5] siehe Die Welt, 6. Dezember 2012